Da war noch der schwarze, hagere Archivar Ibrahim Effendi, von dem es hieß, er sei unbestechlich. Ein schweigsamer, zurückhaltender Mann, der sich nur um seine zahlreichen Kinder und um die Korrespondenz und das Archiv des Wesirs kümmerte. Sein Leben war ein Kampf mit ungeschickten, pflichtvergessenen Schreibern … und mit den Papieren, die, wie verhext, nie in Ordnung kamen. Den Tag verbrachte er in einem halbdunklen Zimmer voller Schubladen und Regale. Hier herrschte eine nur ihm bekannte Ordnung. Verlangte man von ihm die Abschrift eines Dokumentes oder irgendeinen alten Brief, geriet er jedesmal in Aufregung als geschähe etwas ganz Unerwartetes, Unerhörtes… (aus: Ivo Andrić, Wesire und Konsuln)1
1. Heraus aus der archivischen Staubecke
Im folgenden Beitrag2 wird vielfach vom Staub der Archive die Rede sein, und dies auch noch in vielen Varianten. Selbst in den Titel des Beitrags hat sich, wenn auch kursiv sowie mit einem deutlichen Fragezeichen versehen, die Staubecke eingeschlichen. Und wenn es auf den ersten Blick auvh wenig originell erscheint: Wenn man als Archivarin oder Archivar die Gelegenheit hat, vor einem sogenannten “Laien”-Publikum zu sprechen: dann wird klar, dass die “Archive” entsprechend konnotiert sind – und selbst Literaturnobelpreisträger wie der sicherlich in Archiv- und Registraturfragen nicht unkundige frühere Diplomat Ivo Andrić waren vor solchen Anwandlungen nicht gefeit. Verkürzt gesagt, handelt es sich um ein eigentlich diffuses Bild, gerne auch in Funk, Fernsehen und mittlerweile auch im Netz transportiert – staubige Keller, muffige Aktenablagen der Kriminalpolizei mit schrulligen “Archivaren”, die ohne erkennbaren Sinn in Stehordnern oder Zeitungssammlungen “recherchieren”. Im nachgerade besten Fall wird das Archiv mit geheimnisvollen Gewölben oder alten Papieren und Urkunden in Verbindung gebracht: Das wäre dann die (Fantasy-)Harry-Potter-Variante, um im Bild zu bleiben3 .
“Dem Staub der Jahrhunderte entreißen – Offene Archive!”, so lautete der Titel einer Session auf der 10. re:publica in Berlin im Mai 2016.4 Die re:publica ist die europaweit größte Konferenz rund um die Themen Digitalität, Soziale Medien und nicht zuletzt Netzpolitik. Gut und gerne 8.000 Besucher kamen dazu nach Berlin. Darunter dürften sich, und dies ist eine eher optimistische Schätzung, vielleicht ein Dutzend Archivarinnen und Archivare befunden haben. Warum war dies so? Eine Erklärung fällt schwer, zumal die kulturellen Themen in Berlin keineswegs zu kurz kamen und digitale Fragen eigentlich zum modernen Handwerkszeug der Archivarinnen und Archivare zählen sollten. Die re:publica ist vom Programm her prinzipiell auch offen für Archive, Bibliotheken und Museen, und dies bei einer ganz erheblichen medialen Verbreitung. Was lag da näher, als einen Archiv-Versuchsballon loszulassen, also eine Session einzureichen? Hierzu fanden sich neben dem Verfasser dieses Beitrags zwei Kolleginnen bereit5 . Bei näherem Hinsehen zeigte sich sehr schnell, dass es das noch nie gegeben hatte – es gab bisher keinen (!) archivischen Vortrag, keine archivaffine Diskussionsrunde oder andere Präsentation von Archivarinnen und Archivaren bei der re:publica. Und dabei haben gerade die Archive im Kontext der re:publica viel zu sagen, etwa mit Bezug zu zeithistorischen, gesellschafts- oder informationspolitischen Themen; ähnliches gilt in Bezug z.B. zur digitalen Langzeitarchivierung, zu Fragen von Aktenvernichtungen in Behörden etc. (die Beispiele ließen sich fortsetzen). Dieser Sachstand wird nicht besser, wenn man auf die Bibliotheken und Museen schaut (ganz zu schweigen, wenn historische oder kulturvermittelnde Themen berücksichtigt werden): Hier wechselten sich die Rednerinnen und Redner auf der re:publica in den vergangenen Jahren regelmäßig ab (und dies teils mit sehr großem Publikumszuspruch).
Die Archiv-Session musste für den re:publica-Kontext kurz und “knackig” betitelt und beschrieben werden. Eine archivwissenschaftliche Ausarbeitung zu Bewertungsmodellen für die Unterlagen der Sozialgerichtsbarkeit oder der Polizei hätte zwar sicher Eingang in archivfachliche Zeitschriften gefunden, aber bei der re:publica wären die Chancen auf die Annahme doch erheblich gesunken. Mithin war also “Übersetzungsarbeit” zu leisten, die nicht wenigen der gut und wissenschaftlich ausgebildeten Archivarinnen und Archivaren leider oft abzugehen scheint. Die eingereichten Thesen der Sektion sind (genauso wie die Präsentationsfolien) weiterhin im Netz verfügbar6 . Präsentation und die Live-Diskussion vor Ort handelten von der geringen öffentliche Wahrnehmung der Archive, auch eben im Vergleich zu vielen anderen Kulturguteinrichtungen (damit gemeint sind keineswegs nur die „Flaggschiffe“ unter den Museen, die auch im musealen Kontext kaum erreichbar sind!); es ging um die Ausrichtung nach den Bedürfnissen und Interessen unserer Nutzer/innen. Schließlich sollten auch die eigentlich beachtlichen digitalen Gehversuche in vielen Bereichen des Archivwesens Erwähnung finden – darunter auch die digitale Erweiterung vieler Archive um Angebote der Sozialen Medien und Blogs. Hier stand und steht die Konferenzreihe “Offene Archive” im Hintergrund, die nach Stationen in Speyer (2012), Stuttgart (2014) und Siegen (2015) im Jahr 2017 erneut stattfindet – diesmal im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (19. bis 20. Juni), und erstmals ergänzt um ein “ArchivCamp“7 . Der Begriff “digitale Erweiterung” ist ein eigentlich auch wunderbar auf die Archive anwendbarer Terminus aus dem Feld der Museen: Nicht selten kümmern sich eigens dafür abgestellte Kuratorinnen und Kuratoren um den Ausbau der digitalen Aktivitäten sowie der externen Kommunikation ihres Museums und arbeiten an der Implementierung einer digitalen Strategie; teils werden die Strategiekonzepte auch vorab der Öffentlichkeit zur Diskussion und Weiterentwicklung zur Verfügung gestellt8 .
Nochmals zurück zur re:publica des Jahres 2016: Die erste archivische “Session” der Konferenzreihe fand, was durchaus bezeichnend für den Stellenwert der Archive in der Öffentlichkeit scheint, im relativ kleinen Rahmen statt: Während bei Stargästen wie dem bekannten Blogger Sascha Lobo mehrere Tausend Zuhörer anwesend waren und selbst die Bibliotheksveranstaltung vor mehreren Hundert Gästen stattfand, freuten wir uns über knapp 60 Besucherinnen und Besucher. War die aktive Teilnahme an der re:publica nun mehr ein Erfolg oder eher ein Misserfolg? Die Antwort ist ganz klar: ein Erfolg – auch wenn offensichtlich ist, dass das “Heraus aus der archivischen Staubecke”, so wenig diese Ecke eigentlich staubig ist, beschwerlich ist. Auf dieser grundlegenden und viel beachteten digitalen Konferenz ist für Archive noch viel Luft nach oben, in vielerlei Hinsicht. Im Übrigen wird auch im Jahr 2017 die re:publica eine Archiv-Sektion im Programm haben9 .
2. Für Öffentlichkeitsarbeit habe ich keine Zeit
Der Wege aus der Staubecke sind viele. Sehr viele davon können (und: müssen!) digital unterstützt oder vor allem digital gegangen werden. Ein bezeichnendes Beispiel, an das der Verfasser immer wieder denken muss: Am Rande eines regionalen Archivtags im deutschen Südwesten kreiste in einer Pause einmal das Gespräch rund um das Thema Öffentlichkeitsarbeit. Die damaligen Gesprächspartnerinnen und -partner betreuten ihre Einrichtungen ohne weitere personelle Unterstützung – der Kreis der Ein-Personen-Archive ist ja gerade im kommunalen Bereich häufig anzutreffen. Thema der kleinen Runde waren PR-Maßnahmen in allen Schattierungen: also vom analogen Flyer, über öffentliche Führungen, Vorträge, eine Homepage, bis hin zur möglichen Nutzung der Sozialen Medien. Eine Aussage, die damals fiel, lautete sehr prägnant: “Für Öffentlichkeitsarbeit habe ich keine Zeit!” Es gehe darum, das Archiv beim Eintritt in den Ruhestand so fachgerecht erschlossen, verpackt und geordnet zu hinterlassen, dass dieses zur Not auch unbesetzt noch Jahrzehnte überdauern könne. Hier wurde das (an sich fachlich ehrenwerte und korrekte!) Prinzip des säurefreien Kartons in der Compactus-Anlage gegen jegliche Formen der Kommunikation gewendet; und es wurde vergessen, dass auch interne Kommunikation gegenüber dem Archivträger zur Öffentlichkeitsarbeit zählt und unabdingbar für das Überleben eines Archivs ist. Eine weitere Gesprächspartnerin der genannten kleinen Runde sei an dieser Stelle namentlich erwähnt: Andrea Rönz, Leiterin des aufgrund ihrer Initiative digital äußerst aktiven kleinen Stadtarchivs in Linz am Rhein. Das Archiv ist auf gleich mehreren Web 2.0-Kanälen aktiv, was auch für die Planung und Organisation von Ausstellungen und Publikationen gilt. Trotzdem sind, wie der Verfasser aus eigener Anschauung gesehen hat, im Magazin des Archivs auch säurefreie Kartons vorhanden (und eigentlich nur solche) – aber selbst diese sind schon im Blog und Facebook-Auftritt des Stadtarchivs präsentiert worden10 .
Für den deutschsprachigen Raum könnten an dieser Stelle mittlerweile zahlreiche Archive, darunter auch große staatliche Archive und noch mehr Stadtarchive, aber auch Kirchen- oder Universitätsarchive genannt werden, die in den letzten Jahren im partizipativen Web 2.0 aktiv geworden sind. Auf staatlicher Ebene zählen hierzu auch das Schweizerische Bundesarchiv (ein durchaus herausragendes Beispiel11 ), und ebenso das Österreichische Staatsarchiv – dieses ist das vermutlich erste deutschsprachige Archiv mit einer eigenen Facebook-Präsenz gewesen; mittlerweile wird auch intensiv und gut getwittert12 . Auch das deutsche Bundesarchiv ist seit einigen Monaten in die “Blogosphäre” eingetaucht bzw. wendet sich neuen Nutzergruppen zu13 . Vielfach finden sich umfassendere digitale Ansätze, die neben Web 2.0-Tools wie Facebook und Twitter auch beispielsweise Aspekte von nutzergenerierter Erschließung (Crowdsourcing), virtuelle oder interaktive Präsentationen, Smartphone-Applikationen für die Bildungsarbeit oder ganz generell eine intensive Orientierung an neuen Nutzungs- und Recherchegewohnheiten beinhalten können (Stichworte wären: Online-Beratung, Chats, Imagefilme und Erklärvideos, ebenso wie das leider gar nicht immer so banale WLAN im Lesesaal; auch die Nutzung des Smartphones für das Fotografieren im Lesesaal kann hier dazu gezählt werden14 ). Zweifellos wird vielfach noch experimentiert; nicht selten bleibt ein Auftritt bei Facebook für längere Zeit der einzige Schritt in das “Neuland” der Sozialen Medien. Zu konstatieren ist aber grundsätzlich, dass bei den meisten Kolleginnen und Kollegen im Archivbereich mittlerweile das Unverständnis oder gar “Entsetzen” ausbleibt (von der interessierten Öffentlichkeit ganz zu schweigen!). Als an der Sache interessierter Archivar bzw. interessierte Archivarin wird man auch nicht regelmäßig mehr darauf hinweisen müssen, dass Facebook allein mehr Beitragsaufrufe hat als das gesamte Netz zusammen (sieht man mal von der Google-Suchmaschine ab), was vielleicht allein schon Rechtfertigung genug sein dürfte.
3. Social Media – Chance oder Gefahr?
Sehr schön lässt sich die Entwicklung anhand der Deutschen Archivtage in den letzten Jahren ablesen: Erstmals richtig zur Sprache kam das Thema Web 2.0 im Jahr 2009 in Regensburg: Mario Glauert erntete dort, als er Beispiele und Konzepte aus dem angelsächsischen Raum und Westeuropa präsentierte, noch weitgehend Kopfschütteln (zumindest war dies die “gefühlte” Reaktion, die der Verfasser dieses Beitrags auch im Saal erlebte)15 . Es hat dann einige Zeit und erste Gehversuche in der Praxis gebraucht16, ehe immerhin im Rahmen der großen Informationsveranstaltung auf dem Archivtag des Jahres 2012 eines dieser Praxisbeispiele kurz präsentiert werden konnte. Bezeichnenderweise stand die damalige Veranstaltung noch unter der Frage “Social Media: Chance oder Gefahr?“17 . Wer fünf Jahre später den Deutschen Archivtag in Koblenz besuchte, der wird positiv vermerkt haben, dass die Frage von 2012 klar in Richtung “Chance” beantwortet wird bzw. dass die Sozialen Medien als nützliche bzw. wichtige Notwendigkeit angesehen werden – auch seitens des archivischen Berufsverbandes VdA. Mehrfach wurde im Rahmen der Sektionen und Vorträge dieses Archivtags auch auf die Beiträge der Konferenzreihe „Offene Archive“ verwiesen, die seit dem Jahr 2012 bereits dreimal stattfinden konnte (nach Speyer 2012 waren dies Konferenzen 2014 im Landesarchiv Baden-Württemberg sowie Ende 2015 beim Kreis Siegen-Wittgenstein); für den 19. und 20. Juni 2017 konnte das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen als Veranstaltungsort gewonnen werden. In diesem Zusammenhang wird auch erstmals im deutschsprachigen Raum ein “BarCamp” für Archive stattfinden18 . Ohne jegliche Wertung muss man feststellen, dass im Bereich des deutschen Bibliothekswesens im Jahr 2017 bereits das 10. “BibCamp” stattfindet19 ; es wird jeweils von unterschiedlichen Hochschulen und deren Studierenden organisiert und ist ziemlich fest institutionell etabliert, was man selbst vom “BarCamp” der deutschsprachigen Historiker, dem “histocamp”, noch kaum sagen kann20 . Immer stand im Rahmen von „Offene Archive“ auch der Blick über den Tellerrand, also der europäische Kontext im Mittelpunkt; sei es der Nachweis, dass auf Instagram neben Christiano Ronaldo oder Taylor Swift auch Archive in Dänemark sich ansprechend präsentieren können; seien es die von den Niederlanden und Dänemark ausgehenden internationalen Twitter-Aktionstage oder Crowdsourcing-Projekte und Chat-Pilotprojekte aus der Schweiz. Konferenz und “ArchivCamp” 2017 sind übrigens erstmals offizielle Veranstaltungen des neu gegründeten Arbeitskreises “Offene Archive” im VdA21 .
Nicht nur im Rahmen der genannten Konferenzreihe sowie bei den vergangenen Deutschen Archivtagen zeigt sich seit einiger Zeit, dass sich das Archivwesen zumindest etwas aus der im Beitrag mehrfach zitierten Staubecke zu bewegen scheint. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass in den Regionen, bei regionalen Veranstaltungen und Archivtagen die Archive 2.0-Thematik aufgegriffen wurde und wird. Schöne Beispiele hierfür wären die großen Archivtage im Rheinland und in Westfalen, ebenso auch der Südwestdeutsche Archivtag und einige andere regionale Formate in Deutschland; hier finden sich dann auch teils Blogs zu den Archivtagen, die der Vor- und Nachberichterstattung (und dem Live-Bloggen während der Veranstaltung) dienen. Ganz aktiv ist man beispielsweise in Westfalen, besonders beim LWL-Archivamt (wo man zusätzlich auch ein fachbezogenes Blog des Archivamts und ergänzende Web 2.0-Kanäle aufgebaut hat und mit Erfolg betreibt)22 .
Wichtig waren und sind auch Fortbildungen: in Deutschland stehen dafür neben der Archivschule Marburg und der FH Potsdam gerade auch die Programme der Archivämter im Rheinland und in Westfalen. Durchaus lehrreich sind auch die Abschlussarbeiten in Marburg und Potsdam, die sich einzelnen Aspekten und Projekten widmen. Dass Abschlussarbeiten oft in Kooperation mit dem ausbildenden Archiv entstehen, ist für diese Archive dann sicher kein Schaden23 . Wenn man im Bereich der Fortbildungen allerdings sehenden Auges durch das Netz “spaziert”, dann wird man um die zahlreichen Angebote und Ideen aus dem Umfeld der anderen Gedächtniseinrichtungen und überhaupt des Kulturmarketings kaum herum kommen. Dort erfährt man letztlich auch (zugespitzt formuliert), was die Archive und die Archivarinnen und Archivare in vielleicht ein paar Jahren auch für sich entdecken könnten. Auch Richtlinien und Handreichungen zum archivischen Umgang mit Social Media sind mittlerweile erarbeitet worden24 . Die Aktualität solcher Vorgaben muss jedenfalls regelmäßig überprüft werden. Unabhängig davon sind allgemeine Social-Media-Guidelines, wie sie ja oft in Verwaltungen geschrieben werden, ein gutes Mittel, um Fehler im Umgang mit dem Medium zu vermeiden25 .
Einen positiven Weg zurückgelegt hat der Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA)26 : Dort erarbeitete eine AG nicht nur ein neues Konzept für die Public Relations des Verbandes unter Einbeziehung seiner damals noch in den Anfängen steckenden Social-Media-Kanäle auf Facebook und Twitter. Seitens des VdA wurde außerdem ein eigenes Blog aufgesetzt. Der Dachverband der deutschen Archivarinnen und Archivare hat sich seither deutlich positioniert – dies beginnt, wie schon ausgeführt, bei den Tagungsprogrammen zum Deutschen Archivtag, in denen die Sozialen Medien des VdA und der Twitter-Hashtag des Archivtags alles andere als “versteckt” werden; und dies endet hoffentlich auch nicht mit der Etablierung eines neuen VdA-Arbeitskreises zum Thema “Offene Archive“27 . Auch die größte deutsche Fachzeitschrift (“Archivar”) hat sich nun schon mehrmals in den letzten Jahren des Themas angenommen und entsprechenden Beiträgen größeren Raum geboten28 .
Auch ein Blick zu den anderen Gedächtniseinrichtungen (vor allem zu Museen und Bibliotheken) lohnt sich. Gleichwohl muss konstatiert werden, dass sich Archive damit in einen “Wettstreit” begeben, den sie kaum “gewinnen” können – schließlich ist ja von teils sehr differierenden (auch: finanziellen) Ausgangssituationen, Zielgruppen, Kernaufgaben und zu verwahrenden bzw. an die Nutzer zu bringenden Objekten ausgehen. Mit den großen “Tankern” im Bereich der Museen und Bibliotheken können und müssen Archive auch nicht konkurrieren; aber: Bibliotheken und Museen haben in aller Regel die Zeichen der Zeit deutlich früher erkannt. Ein Grund hierfür mag übrigens darin liegen, dass dort die öffentliche Wahrnehmung, Besucherzahlen in digitaler und analoger Form, Ausleihen (und was auch immer noch) wesentlich überlebenswichtiger sind als im archivischen Umfeld? Andererseits sind nun einmal die Zeiten vorbei, in denen den Archivarinnen und Archivaren ihre jeweilige Institution mit dessen Kernaufgaben genug war – und in denen Fragen nach z.B. Benutzer(zahlen) bzw. Aufgaben wie Ausstellungen, pädagogische Aktivitäten sowie Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit vielfach als Randnotizen galten. Ein Großteil der Öffentlichkeit “verwechselt” zweifellos Archive, Bibliotheken und Museen – was bar jeder Fachkenntnis auch gar nicht so sehr unmöglich erscheint. Diese Schwierigkeiten der Unterscheidung zeigen eigentlich vor allem eines: Eine Absolution von der Notwendigkeit einer prägnanten externen Öffentlichkeitsarbeit können sich Archive eigentlich kaum leisten. Wir Archivarinnen und Archivare sollten dann aber herausstellen, was unsere Einrichtungen so besonders macht. Gleichzeitig kann uns der Blick auf Museen und Bibliotheken weiterbringen; dies gilt übrigens auch für die Aktivitäten mancher Archive in anderen Staaten.
Es folgen abschließend einige Beispiele, die auch für die archivische Arbeit von Interesse sind. Dass bereits in dem einen oder anderen Fall Archivarinnen und Archivare bzw. deren Einrichtungen mitarbeiten – dies macht Hoffnung für die Zukunft.
Zuerst soll ein Hinweis auf “Hackdays” oder “Hackathons” erfolgen: Es handelt sich um spartenübergreifende oder auch sehr spezifische Veranstaltungen, die von Kollaboration leben und ihren Schwerpunkt eigentlich im Feld der thematischen Soft- oder Hardwareentwicklung haben. Auch der kulturelle Bereich wird mittlerweile einbezogen, indem von verschiedenen Einrichtungen offene, also frei verwendbare Datensets etwa aus Bibliotheken und Archiven oder Museen zur Verfügung gestellt werden, die dann von Teams aus Informatikern, kulturell Interessierten sowie z.B. Grafikern bearbeitet und weiter entwickelt werden. Der erste Kultur-Hackathon in Deutschland (“Coding da Vinci”) fand im Jahr 2014 statt; im Jahr 2015 nahmen an der zweiten Ausgabe von “Coding da Vinci” immerhin 33 Kulturinstitutionen teil29 . Vertreten waren große Institutionen wie die Deutsche Nationalbibliothek und das Deutsche Museum, aber auch einige kleinere Museen; dazu kamen lediglich zwei Archive. Die ca. 150 “hackenden” Teilnehmer/innen entwickelten ca. 20 Projekte, die schließlich von einer Jury bewertet wurden. Zu den institutionellen Organisatoren von “Coding da Vinci” zählte neben der Wikimedia Deutschland e.V. unter anderem auch die Deutsche Digitale Bibliothek. Zum Anspruch der Veranstaltung gehört, dass die Kultureinrichtungen ihre Daten nach Möglichkeit freigeben sollen (gemäß dem Anspruch der OpenGLAM-Initiativen30 ). Mit “Coding da Vinci” vergleichbare Veranstaltungen fanden zuletzt z.B. auch in der Schweiz statt31 ; auch im virtuellen Urkundenportal “Monasterium” wurden in sogenannten “MOMathons” Urkundendatensätze bearbeitet und verbessert32 .
Ein Ziel der bereits in diesem Beitrag genannten “BarCamps” ist, die vorherrschenden Tagungsgewohnheiten und die üblichen “frontalen” Vorträge “aufzulockern” bzw. ein partizipativeres Angebot zu schaffen. Insofern wären auch archivische “BarCamps” zumindest als Ergänzung zu herkömmlichen Konferenzen eine gute Möglichkeit, aus dem vielfach üblichen fachlichen “Elfenbeinturm” herauszukommen. Rein “informierende” Konferenzen werden in Zeiten des Digitalen an Bedeutung verlieren. Der Zugang zu Informationen vor, während und nach den Veranstaltungen ist niedrigschwellig und zugleich vielfältig33 .
Schließlich folgt noch ein Blick auf weitere, durchaus “klassische” Veranstaltungsformate, die durch die Nutzung der Sozialen Medien einen erheblichen Mehrwert erhalten können: Das Bildernetzwerk “Instagram” zählt zu den am rasantesten wachsenden Web 2.0-Tools. Bereits im Juni 2016 wurde die Marke von 500 Millionen Nutzern erreicht; täglich werden knapp 60 Millionen Beiträge (Bilder) hochgeladen34 . “Instagram” ist eine weitgehend mobile Anwendung. Längst haben auch Kultureinrichtungen (darunter allerdings nur vergleichsweise wenige Archive) die Bedeutung des Netzwerkes erkannt. “Spaziergänge” oder Führungen, mithilfe der App bebildert, sind mittlerweile nicht ungewöhnlich. Ganz ähnlich funktionieren “Tweetups” (wobei dort der Fokus mehr auf den Texten liegt) oder auch umfänglichere Social-Media-Veranstaltungen. Die Einrichtungen laden Blogger, Twitterer und nicht zuletzt Instagrammer ins Haus und gewähren diesen einen vertieften Einblick, auch hinter die Kulissen; im besten Fall befinden sich unter den Besuchern auch einige “Influencer” mit großer Reichweite. Resonanz und Außenwirkung können selbst bei kleineren Veranstaltungen beeindruckend sein35 . Es handelt sich in allen Fällen um digitale und zugleich analoge Formen der Vermittlung; neben der Führung oder dem Rundgang vor Ort steht man auch im Austausch mit partizipierenden oder auch fragenden “Mit-Lesern” im Netz. Als Archivar/Archivarin man muss nun gar nicht so sehr ins Grübeln kommen, welche Formate man denn überhaupt anbieten kann. Vieles liegt auf der Hand oder steht in der Jahresplanung schon fest: vom Tag der Offenen Tür über den deutschlandweiten “Tag der Archive” bzw. den Internationalen Archivtag bis hin zu Großveranstaltungen wie den Museumsnächten – um einige Beispiele zu nennen.
Aber dies ist nicht das Ende der Fahnenstange. Der Verfasser freut sich, und damit schließt dieser Beitrag, auf das erste deutschsprachige Archiv, das nach dem mittlerweile mehrfachen Vorbild der amerikanischen National Archives Foundation einen archivpädagogischen “Sleepover” durchführen wird !36
- Ivo Andrić, Wesire und Konsuln, Zürich 1963, S. 268. [↩]
- Es handelt sich um die leicht überarbeitete und mit den nötigen Nachweisen versehene Fassung des Vortrags am 11. November 2016. Die seinerzeitige Präsentation ist weiterhin abrufbar unter https://de.slideshare.net/JoachimKemper/externe-kommunikation-und-digitale-vermittlung (aufgerufen am 26.3.2017). [↩]
- Zur ersten Variante ein passendes, recht aktuelles Zitat aus der Beschreibung von „Lotte Jäger und das tote Mädchen“ (ZDF 2016): „Lotte Jäger (Silke Bodenbender) war zwölf Jahre bei der Mordkommission. Ihrer Psyche tat das nicht gut. Jetzt versucht sie, es ruhiger angehen zu lassen: als Sonderermittlerin für ungeklärte Fälle. Ihr Kollege Schaake (Sebastian Hülk) ist Akten-Fetischist, hockt im staubigen Archiv-Keller und versorgt Lotte mit den nötigen schmutzigen Informationen aus grauer Vorzeit.“ Zitiert nach: http://www.tittelbach.tv/programm/reihe/artikel-4224.html (aufgerufen am 13.4.2017) [↩]
- https://re-publica.com/de/16/session/dem-staub-jahrhunderte-entreissen-offene-archive (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- Dr. Antje Diener-Staeckling (LWL-Archivamt Münster) und Elisabeth Steiger M.A. (Universität Köln, EU-Projekt co:op). [↩]
- https://de.slideshare.net/OffeneArchive/republica-presentation (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- https://archive20.hypotheses.org/konferenz-archivcamp-2017 (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- http://blog.iliou-melathron.de/index.php/2016/01/digsmus/ (Christian Gries, Digitale Strategien für Museen; aufgerufen am 13.4.2017). Dass im Vergleich dazu im Archivwesen eine digitale Strategie nochmal etwas deutlich anderes darstellt, muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Stichworte wären u.a. die elektronische Archivierung von digitalen Unterlagen, mithin die Integration eines digitalen Magazins in das Gesamt der Digitalisierungsaktivitäten, oder die Implementierung eines digitalen Lesesaals bzw. von Tools zur Nutzerführung und Interaktion (also Fragen, die vor kurzem auch im “Archivar” zur Debatte standen: Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 69/3 (2016 [↩]
- https://archive20.hypotheses.org/3991 (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- Den besten Überblick bietet: https://archivlinz.hypotheses.org/ (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- https://www.bar.admin.ch/bar/de/home.html (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- https://www.facebook.com/oesterreichischesstaatsarchiv/?fref=ts bzw. @Staatsarchiv (Twitter) (aufgerufen jeweils am 13.4.2017). [↩]
- https://blogweimar.hypotheses.org/ bzw. https://archive20.hypotheses.org/3684 (aufgerufen jeweils am 13.4.2017). [↩]
- Ganz abgesehen davon ist ja mancherorts das bloße Mitführen von Handy, Smartphone & Co. immer noch im Archiv-Lesesaal gänzlich untersagt. [↩]
- https://de.slideshare.net/MarioGlauert/archiv-20-vom-aufbruch-der-archive-zu-ihren-nutzern (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- Joachim Kemper, Archivische Spätzünder? Sechs Web 2.0-Praxisberichte. Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 65/2 (2012) 136–143. [↩]
- https://archive20.hypotheses.org/225 (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- Die Dokumentation aller bisherigen Konferenzen, teils inklusive Videoaufnahmen und Volltexten von Vorträgen, findet sich unter https://archive20.hypotheses.org/offene-archive-2-0-bis-2-2 (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- https://bibcamp.wordpress.com/2016/11/11/10-bibcamp-2017-in-hannover/ (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- https://www.histocamp.de/ (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- http://www.vda-blog.de/blog/2017/02/15/neuer-vda-arbeitskreis-offene-archive/ (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- https://archivamt.hypotheses.org/ (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- Hier nur die aktuellen Beispiele von Absolventen der Archivschule Marburg, die am 20. Juni 2017 bei “Offene Archive” ihre Transferarbeiten vorstellen werden (Kathrin Baas und Sebastian Tripp). [↩]
- Aktuelle Handreichung der deutschen BKK für den kommunalarchivischen Bereich (PDF): http://www.bundeskonferenz-kommunalarchive.de/empfehlungen/Handreichnung_social_media_Endfassung.pdf (aufgerufen am 14.4.2017). [↩]
- http://www.staedtetag.de/imperia/md/content/dst/siteuebergreifend/2014/leitlinien_social_media_2014.pdf (Leitlinien des Deutschen Städtetages zur Kommunikation der Städte im Bereich Social Media, aufgerufen am 14.4.2017). [↩]
- https://www.vda.archiv.net/aktuelles.html (aufgerufen am 14.4.2017). Auch beim schweizerischen Dachverband sind übrigens ähnliche Ansätze, wie hier geschildert, deutlich zu erkennen (http://vsa-aas.ch/ bzw. konkret unter http://vsa-aas.ch/social-vsa/vernetzung/ — aufgerufen jeweils am 14.4.2017). [↩]
- http://www.vda-blog.de/blog/2017/02/15/neuer-vda-arbeitskreis-offene-archive/ (aufgerufen am 14.4.2017). [↩]
- Zuletzt: Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 69/3 (2016). In einem der nächsten Hefte soll das archivische Bloggen im Mittelpunkt stehen. [↩]
- https://codingdavinci.de/ (aufgerufen am 14.4.2017). [↩]
- https://openglam.org/ (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- http://www.phil.uzh.ch/elearning/blog/blog/2015/09/28/hackappelli-cappelli-hackathon/ bzw. https://www.srf.ch/kultur/netzwelt/kultur-hackathon-schweizer-kulturerbe-neu-programmiert und https://glam.opendata.ch/ (aufgerufen jeweils am 13.4.2017). [↩]
- https://archive20.hypotheses.org/3903 (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- Hier nur der Hinweis darauf, dass aktuell auch beim Deutschen Museumsbund erstmals mit diesem Format experimentiert wurde (im Rahmen der Bundesvolontärstagung 2017): https://www.facebook.com/events/667128700128018/ (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Instagram#Bedeutung (aufgerufen am 13.4.2017). [↩]
- An dieser Stelle nur der Verweis auf den kleinen, aber erfolgreichen Tweetup „Archivperlen“ des Instituts für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, 24. Juni 2016: https://archive20.hypotheses.org/3410 (aufgerufen am 13.4.2017). Im Rahmen der Konferenz “Offene Archive” wird am 20. Juni 2017 Dr. Christian Gries (Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern) zum Thema referieren: “Ich bin ganz gerührt beim Anblick der Goldenen Bulle” – über aktive digitale Vermittlung bei Social Events in Archiven”. https://archive20.hypotheses.org/konferenz-archivcamp-2017 (aufgerufen am 14.4.2017) [↩]
- https://www.archivesfoundation.org/sleepover/ sowie https://archive20.hypotheses.org/3012 (jeweils aufgerufen am 14.4.2017). [↩]